Als nach dem ersten Weltkrieg am 31. Juli 1919 die Weimarer Verfassung verabschiedet wird, gibt es endlich eine Grundlage für den ersten deutschen demokratischen Nationalstaat, die erste Republik. Das Volk hatte die Macht erobert. Diese Weimarer Verfassung war zwar – wie sich noch herausstellen sollte – alles andere als perfekt oder schusssicher gegen die Feinde der Demokratie, doch sie gab den deutschen Bürgern weitreichende politische Rechte und erstmals ein allgemeines und gleiches Wahlrecht – für Männer und für Frauen.
Ein neues Selbstbewusstsein der Bürger gegenüber den tradierten Machtverhältnissen war deutlich zu spüren. Auch hier in Nierstein, wo sich ebenfalls 1919 erstmals ein einfacher Arbeiter anschickte Bürgermeister zu werden. Das aber schmeckte dem Besitzbürgertum, das die Geschicke Niersteins seit Generationen bestimmte, gar nicht. Gegen den Weinbergarbeiter August Eckert, der als Kandidat der demokratischen Parteien antrat, bot man rasch den traditionell deutsch-national gesinnten Gutsbesitzer Paul Wernher auf – ein Mitglied jener angesehenen Familie Wernher, von der wir schon am Haxthäuser Hof gehört haben Der Wahlkampf um die Stadtspitze wurde mit harten Bandagen geführt, davon zeugen die Anzeigen in großen Lettern und mit vielen Ausrufezeichen in der Lokalzeitung „Niersteiner Warte“ vor der Wahl. Der Arbeiter Eckert gewann die Wahl mit 1.025 Stimmen gegen 800 Stimmen für Wernher.
In einem Gastkommentar in der Niersteiner Warte war zu lesen: „Die deutsche Revolution von 1918 ist die erste eigentliche europäische Revolution an der die Bourgeoisie [also das wohlhabende Bürgertum, das im Besitz der Produktionsmittel ist] nicht mehr ausschlaggebend beteiligt ist. Es ist eine Revolution des werktätigen Volkes. Deshalb ist es die logische Konsequenz, dass ein ausgesprochener Repräsentant des Besitzes [gemeint ist der Gutsbesitzer Paul Wernher], mag er persönlich noch so achtbar und tüchtig sein, das Vertrauen der eigentlich werktätigen Bürgerschaft nicht […] haben kann.“ Ein Repräsentant der Arbeiterschaft wird in der Weinbaugemeinde Bürgermeister. „Die Arbeiterschaft hat ihr Bewusstsein und Selbstvertrauen entwickelt.“ – So klingt Klassenkampf in Nierstein. So klingt ein Volk mit neuem demokratischem Selbstbewusstsein.
Diese Demokratie zu verteidigen – auch gegen ihre erstarkenden Feinde, die Nationalsozialisten – das hatte sich der Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold auf die Fahne geschrieben. Wehrhaft und kampfbereit. Davon erfahren wir an der nächsten Station. Die Karte unten zeigt wo es lange geht. In fünf Minuten sind Sie dort.