Wer heute vor dem Haus mit der restaurierten Niersteiner Backsteinfassade in der Bildstockstraße 22 steht, ahnt wohl kaum, dass dieses Anwesen in den späten Jahren der Weimarer Republik eine dramatische Rolle spielte.
Das hängt mit seinem damaligen Bewohner zusammen: Jakob Dörrschuck. Der war – so viel sei schon gesagt – überzeugter Demokrat, Mitglied der Zentrumspartei und sehr verdienter Bürger. Dörrschuck war Rektor der Niersteiner Schule, Organist der St. Kilianskirche, Beigeordneter im Rathaus und engagierter Heimatforscher. Unter ihm wurden die beiden streng konfessionell getrennten Schulen in Nierstein zu einer gemeinsamen Christlichen Gemeinschaftsschule zusammengeführt. Kurzum: er war ein kluger, fortschrittlicher und in Nierstein angesehener Mann.
Doch in den frühen 1930ern beobachtet Dörrschuck mit Sorge, wie rechtsextreme Kräfte immer stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft und die politischen Strukturen in Nierstein nehmen. An allen wichtigen Stellen versuchen Nationalsozialisten ihre Leute zu etablieren. Auch an Niersteins Schule: dort will 1932 der Lehrer Peter Großmann die Nachfolge Dörrschucks als Rektor antreten. Großmann ist ein überzeugter Nazi und glühender Propagandaredner. Als Rektor hätte er entscheidenden Einfluss auf die Erziehung der Kinder – ganz im Sinne der NSDAP.
Während der Kommunale Schulvorstand und der Gemeinderat sich mit großer Mehrheit für den NS-Mann aussprechen, bringt Dörrschuck im Lehrerrat das gegenteilige Ergebnis zustande. Dort entscheidet man sich fast einstimmig für den Gegenkandidaten Heinrich Weinheimer, der am Ende auch Rektor wird.
Für die Nationalsozialisten bringt das das Fass zum überlaufen. Ihnen war der aufrechte Dörrschuck schon lange ein Dorn im Auge. Immer wieder hatten sie ihn verbal und körperlich drangsaliert, des Nachts kam es wiederholt zu Angriffen auf sein Anwesen hier in der Bildstockstraße 22. Am 18. September 1933 aber wird Dörrschuck von Nazis überfallen, verprügelt und in so genannte „Schutzhaft“ genommen. Nur unter Vorlage eines ärztlichen Attests wird er wieder freigelassen.
Ein Jahr später zieht Dörrschuck 1934 nach Mainz, wo er 1939 verstirbt. Sein Schicksal steht für das vieler aufrechter Demokraten in den 1930ern, die sich der Einschüchterung und Gewalt der Nazis zunehmend schutzlos ausgeliefert sehen.
Bis heute verdankt Nierstein Jakob Dörrschuck einiges. Unter anderem die von ihm 1928 herausgegebene und hervorragend recherchierte Ortschronik, die bis heute als Standardwerk der Niersteiner Geschichte gilt.
Und diese Niersteiner Geschichte geht weiter an unserer nächsten Station nahe der B9 Unterführung am Bahnhof. Die Karte unten zeigt wo es langgeht.